Zeitschrift für Luftschiffahrt, Heft 12/1891, S. 286-291
Ueber meine diesjährigen Flugversuche
von Otto Lilienthal
Ueber das Flugproblem lässt sich bereits eine sehr umfangreiche Geschichte schreiben, obwohl es bis zum heutigen Tage zweifelhaft erscheint, wie weit wir noch von einer befriedigenden Lösung dieser überaus hartnäckigen physikalischen Aufgabe entfernt sind. Die Nationen liegen unter einander im Wettstreite, welcher von ihnen die Ehre zu Theil werde, die Menschheit mit der Erfindung des freien Fluges zu beglücken.
Mannigfaltig sind die Methoden, die Geheimnisse des Fliegens zu ergründen, und vielseitig ist die Art und Weise, in welcher die Erfinder und Denker dieses grosse Problem in Angriff nehmen. Der Eine sucht aus den Flugerscheinungen der Vögel in ihrer Gesammtheit die Gesetze des Fliegens abzuleiten; der Andere bemüht sich, die genauen Flügelstellungen des fliegenden Vogels durch photographische Augenblicksbilder zu erhaschen, um dadurch der Natur in die Karten zu sehen. Während Einige die Anatomie der Vögel zu Grunde legen, um wichtige Schlüsse für die Nachbildung des Fliegens zu ziehen, erblicken wieder Andere in der Verbreitung besserer Kenntnisse über die Gesetze des Luftwiderstandes den wesentlichsten Hebel zur Förderung der Flugfrage. Die weitaus höhere Mehrzahl aller dieser Forscher beschränkt sich aber darauf, durch theoretische Ueberlegungen, durch Berechnungen und Projectiren ihr Interesse an der Lösung des Flugproblems zu bekunden, und nur Wenige greifen zum Experimente, um über das Fliegen die Anschauungen zu läutern und die Erfahrungen zu vermehren.
In meinem Aufsatze "Ueber Theorie und Praxis des freien Fluges", welcher in Heft 7 und 8 dieser Zeitschrift (Zeitschrift für Luftschiffahrt) veröffentlicht wurde, habe ich bereits darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, nicht nur theoretischen Calculen nachzuhängen, sondern wo möglich mit praktischen Flugversuchen sich zu beschäftigen, um dadurch ein ergiebiges Mittel in die Hand zu bekommen, auch die verborgensten Eigenschaften des Luftwiderstandes noch auszukundschaften und uns dienstbar zu machen. Auch über die Art und Weise, wie solche Versuche angestellt werden könnten, hatte ich mich des Näheren ausgelassen, indem ich nachwies, dass es einen freien Flug giebt, den der Mensch auch mit den ihm bis jetzt zu Gebote stehenden Mitteln unter allen Umständen ausführen kann, einen Flug, zu dessen Verwirklichung nur sehr einfache Apparate nöthig sind und dessen Einübung in vollkommen gefahrloser Weise sich bewirken lässt. Es ist dieses der schräg abwärts geführte Segelflug, bei welchem man sich eines relativ unbeweglichen Apparates bedienen kann, der die Gestalt ausgebreiteter Vogelflügel besitzt. Die Absprunghöhe ist zunächst so niedrig zu nehmen, dass keine Gefahr durch den Sprung oder Flug entsteht, und je nach der erlangten Uebung ist der höhere und weitere Sprung von grösseren Höhen zu versuchen. Ich hatte auf diese Weise ein vollständiges Programm entwickelt, um nach und nach den Flug immer vollkommener zu gestalten und dadurch schliesslich ein sicheres Bild zu gewinnen, wie weit der vollendete freie Flug erreicht werden kann.
Der Segelflug, der in seiner vollendeten Form das erstrebenswertheste Ziel jedes Flugtechnikers bildet, giebt uns also auch gleich die erste und bequemste Gelegenheit, den freien Flug in beschränkter Form praktisch auszuführen. Der Segelflug ist ein Flug ohne Flügelschläge und das Ideal alles Fliegens bildet der ununterbrochene Segelflug, dessen Möglichkeit die Natur uns durch den Flug vieler Vogelarten in so wundervoller Weise lehrt.
Das Geheimnis dieses Fluges zu ergründen, ist die vornehmste Aufgabe der Flugtechniker. Der eigentliche Segelflug erfordert keine besondere motorische Leistung, es fallen bei ihm also alle jene Bedenken fort, welche man sonst gegen die Beschaffung leichter und starker Motoren hatte. Beim Segelflug bildet der Wind selbst den Motor. Ich habe nachgewiesen, dass die Winde häufig eine so stark aufsteigende Richtung besitzen, dass bei Anwendung richtig gewölbter Flügel die Hebekraft des Windes die erforderliche Stärke und Richtung bekommt, um ein dauerndes Fliegen ohne Flügelschlag zu ermöglichen.
Um nun einen solchen Segelflug, der ja gerade von den Eigenschaften des Windes abhängt, den Vögeln nachzumachen, nützt das Grübeln und Theoretisiren sehr wenig. Die Eigenschaften des Windes und die vortheilhaftesten Flügelformen wollen praktisch studirt sein. Unser Gefühl muss sich schärfen, unsere ganzen Sinne müssen in höherem Grade lernen die dynamischen Factoren der Luft und des Windes zu erkennen und zu verwerthen.
In der Ueberzeugung. dass die Uebung und Erfahrung. wie auf allen Gebieten menschlichen Könnens, auch hier das Ihrige thun wird. habe ich nun nach den bereits entwickelten Gesichtspunkten in dem verflossenen Sommer zahlreiche praktische Flugversuche angestellt.
Der Apparat, dessen ich mich bediente, hatte die Gestalt ausgebreiteter Vogelflügel. Der Flügelquerschnitt nach der Flugrichtung war parabolisch gekrümmt und hatte eine Pfeilhöhe. die an jeder Stelle ein Zehntel der Breite betrug. Es war darauf gerechnet worden, dass durch die beim Fluge entstehenden Durchbiegungen die Pfeilhöhe auf ein Zwölftel der Breite. oder noch weiter. herabsinken würde. Die Flügel waren jedoch so steif, dass ihre Krümmung sich nicht veränderte. Es zerschlug sich hierdurch ihre vortheilhafte Anwendung bei stärkeren Winden. die nach den gemachten Erfahrungen eine schlankere Flügelkrümmung benöthigen.
Die Flugfläche war anfangs 10 qm gross; sie verminderte sich aber durch mehrfache Aenderungen und Reparaturen nach und nach auf 8 qm. Die Klafterbreite des neuen Apparates betrug 7,5 m bei 2 m grösster Breite. Die Flügel liefen in zwei schräg nach hinten gerichtete Spitzen aus. Das Gestell der Flügel bestand aus Weidenholz und zwar derartig. dass je zwei stärkere Ruthen von den Flügelwurzeln nach den Spitzen liefen. über welche schwächere Ruthen quer zum Flügel liegend befestigt waren. Die Bespannung dieses Gestells bestand aus Shirting mit Lacküberzug. Das Gewicht des Apparates betrug ca. 18 kg.
Um den Apparat zuhalten, legte man die Unterarme in zwei gepolsterte Einschnitte am Gestell, während man mit den Händen gleichzeitig zwei entsprechende Griffe umfasste. Hierdurch hatte man den Apparat vollkommen in seiner Gewalt und konnte sich in der Luft sicher mit den Armen auf denselben stützen; aber es war auch möglich, im Augenblicke der Gefahr sowohl den Apparat zu lösen, als auch aus demselben sich herabfallen zu lassen.
Zunächst hatte ich mir in meinem Garten auf einem grösseren Rasenplatze ein Sprungbrett angebracht, welches sich nach und nach erhöhen liess und von welchem ich mit dem Apparate den Absprung übte. Die anfängliche Höhe betrug einen Meter und wurde bis auf zwei Meter vergrössert. Auf dem Sprungbrett konnte ein Anlauf von 8 m Länge genommen werden. Durch wenig Uebung gelangte man dahin, die Flügel beim Sprunge so zu halten, dass ihre Tragfähigkeit eine möglichst grosse wurde.
Das Endresultat an dieser Versuchsstelle war ein 6 - 7 Meter weiter Sprung von 2 Meter Höhe, wobei man beim Sprunge selbst das Gefühl hatte, als ruhe der Körper in der Luft mit seinem Gewichte auf dem tragenden Apparate. Der Aufstoss auf dem weichen Erdboden mit den Füssen war nicht allzu stark, so dass man einen solchen Sprung 50-60 Mal, ohne Schaden zu nehmen, widerholen konnte. Es sei noch bemerkt, dass an dieser durch Bäume geschützten Stelle des Gartens die Versuche bei völliger Windstille ausgeführt wurden.
Nachdem ich auf diese Weise mehrere Wochen hindurch die Handhabung des Flugapparates geübt hatte. bezog ich mit letzterem ein Uebungsterrain zwischen Werder und Grosskreuz, welches den Absprung von verschieden grossen freiliegenden Höhen gestattete. Hier stellte sich nun sofort heraus, dass bei diesen Uebungen besondere Rücksicht auf den herrschenden Wind genommen werden muss. Die Uebungen im Winde erfordern, dass man mit derartigen Apparaten stets genau gegen den Wind gerichtet bleibt. Es ist sogar nöthig, dass man den Apparat so einrichtet, dass er sich selbst stets gegen den Wind einstellt; denn kommt der Apparat in eine vom Winde abweichende Stellung, so erhält die eine Seite sofort erheblich mehr Winddruck, und man ist nicht im Stande, dieser einseitigen Wirkung zu widerstehen. Die selbstthätige Einstellung des Apparates gegen den Wind wurde durch Hinzufügung einer verticalen Steuerfläche bewirkt.
Auf dem besagten Uebungsterrain habe ich nun den Sprung von grösserer Höhe bei Winden von verschiedener Stärke tausendfältig ausgeführt und eine Menge neuer Erfahrungen gesammelt. Wenn der Wind eine Stärke von mehr als 5 - 6 Metern besitzt. so ist die Handhabung des Apparates eine äusserst schwierige, und bevor man nicht durch längere Uebung eine gewisse Fertigkeit darin erlangt hat, darf man es nicht wagen, den Boden mit den Füssen irgendwie zu verlassen. Wiederholt wurde ich durch unvorhergesehene Windstösse mehrere Meter hoch vom Erdboden gehoben, und konnte einem unglücklichen Absturz mit dem sich überschlagendem Apparate nur dadurch vorbeugen, dass ich mich aus dem gehobenen Apparate bei Zeiten herabfallen liess.
Es kommt ausserordentlich genau darauf an, in welcher Neigung man die Flugfläche gegen den anströmenden Wind hält. Richtet man die Fläche zu sehr auf, so wird man vom Winde zurückgetrieben und ist nicht im Stande, sich gegen den Wind zu bewegen, neigt man die Vorderkante der Fläche auch nur um ein Weniges zu tief, so drückt der Wind von oben auf die Fläche und der Absturz ist unvermeidlich. Nur bei längerer Uebung gelangt man dahin, beim Springen von einer Anhöhe gegen den Wind die Gefahrlosigkeit aufrecht zu erhalten. Hat man dieses aber erreicht, was namentlich durch Anbringung einer horizontalen Schwanzfläche sehr gefördert wird, so lassen sich höchst interessante und lehrreiche Exercitien mit einer solchen Flugfläche im Winde ausführen. Das Endresultat an dieser Versuchsstelle bestand nun darin, dass an der höchsten vorhandenen Absprungstelle von 5 - 6 Metern ein etwa 20 - 25 Meter langer Sprung durch die Luft sich ausführen liess und zwar sowohl bei Windstille als auch bei Winden verschiedener Stärke.
Der Unterschied äusserte sich nur in der zum Sprunge aufgewendeten Flugdauer; je stärker der Wind war, desto länger verharrte man in der Luft.
Bei mässigen Winden konnte man die Bewegung in der Luft willkürlich dadurch modificiren. dass man die Flügel abwechselnd mehr oder weniger neigte, um dadurch den Weg in der Luft mehr oder weniger geneigt zu machen und eine Art Wellenlinie künstlich herbeizuführen.
Von vortheilhaften Wirkungen eines derartigen Wellenfluges, wie sie von vielen Aviatikern gerühmt werden, konnte ich hierbei nichts verspüren. Diese Bewegungsart wurde von mir nur ausgeführt, um die willkürliche Beeinflussung des Fluges zu üben und die Sicherheit in der Handhabung des Apparates zu erhöhen. Bei derartigen Flügen ruht das Körpergewicht vollständig auf dem Apparat. d. h. man wird während der durchflogenen Strecke von dem Flugapparate getragen, wobei man nach und nach ein Gefühl vollkommener Sicherheit bekommt.
An dem Landungspunkte oder kurz vor demselben hat man die Flügel etwas mehr vorn aufzurichten, um die Fluggeschwindigkeit zu vermindern, damit der Anprall auf dem Boden kein zu heftiger wird und man nicht vorn überfällt. Dies gilt namentlich für den Sprung bei Windstille. Beim Fliegen gegen den Wind ist das Aufsetzen auf den Erdboden ein vollkommen sanftes. Natürlich spielt namentlich für das gefahrlose Landen die Uebung die grösste Rolle.
Die Beschaffenheit des Terrains ist bei diesen Versuchen von grossem Einfluss. Wie schon gesagt, finden die Bewegungen stets gegen den Wind statt. Wenn nun der Absprung von einem schroffen Abhange erfolgt, so sind die Erscheinungen wesentlich andere, als wenn man auf einem geneigten Terrain abwärts springt. Vor dem Abhang bilden sich in dem Winde Wirbel und an dem Bord des Abhanges hat häufig der Wind eine steil aufwärts-steigende Richtung. Wenn man nun nach dem Rande des Abhanges zu bei horizontal gehaltenen Flügeln einen Anlauf nimmt, so gelangt man im Moment des Absprunges in die aufwärts strömende Windschicht, was sich allemal fühlbar macht und bei stärkeren Winden oft zur Folge hat, dass man plötzlich um mehrere Meter gehoben wird. Es ist mir auch vorgekommen, dass ich nach dem Absprunge vom Winde angehoben und durch eine plötzliche Steigerung des Windes nach dem Abhange zurückgeworfen wurde, den ich schon in der Luft um einige Meter überschritten hatte. Ebenso ist es vorgekommen. dass bei einem Sprung durch plötzliche Zunahme des Windes inmitten der durchflogenen Strecke eine Verzögerung fast bis zum Stillstand eintrat.
Die Windgeschwindigkeit am Fusse der steilen Abhänge ist in der Regel eine viel geringere als auf der Höhe und deshalb gestaltet sich der Sprung von steilen Anhöhen nicht so günstig als bei sanften Abhängen. An letzteren streicht der Wind in mehr sich gleich bleibender Stärke aufwärts, sodass man bis zum Landungspunkte die hebende Wirkung des Windes ausnutzen kann. Die weitesten Sprünge und die längste Flugdauer entstehen. wenn während des Anlaufes und Absprunges der Wind keine bedeutende Stärke hat, sich aber während des Fluges allmählig verstärkt.
Das Uebungsterrain an der besagten Stelle gestattete nun nicht, grössere Strecken von grösseren Höhen aus zu durchfliegen, ich bin daher genöthigt. für die Fortsetzung dieser Versuche ein anderes Terrain aufzusuchen, um auch den Sprung von noch grösseren Höhen und den Flug für grössere Entfernungen zu üben.
Immerhin konnte man durch die bisherigen Versuche die Ueberzeugung gewinnen, dass der schräg abwärts geführte Segelflug mit einem sehr einfachen Apparat sich ausführen und für beliebige Höhen sich gefahrlos einüben lässt.
Einige Aenderungen, die ich während der Uebungszeit an dem Apparate vornahm, belehrten mich, dass in der Formgebung solcher Flugflächen der Schwerpunkt für ihre Brauchbarkeit zu suchen ist, auch erhielt ich dadurch die Andeutung, durch welche Art von Verbesserungen die Stabilität und Tragfähigkeit der Flugflächen sich vergrössern lässt. Ich kann jedoch hierauf erst näher eingehen, nachdem ich meine Versuche in dieser Richtung fortgesetzt und vervollständigt habe.