Otto Lilienthal: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst, Berlin 1889
Kapitel 4
Die Kraft, durch welche der fliegende Vogel gehoben wird.
Die Frage, warum der Vogel beim Fliegen nicht zur Erde fällt, wie es kommt, dass der Vogel in der Luft durch eine unsichtbare Kraft getragen wird, ist in Bezug auf die Art der Kraft, welche dem Vogel diesen unsichtbaren Stützpunkt beim Fliegen gewährt, als vollkommen gelöst zu betrachten. Wir wissen, dass diese tragende Kraft nur aus dem Luft-Widerstand bestehen kann, den die bewegten Vogelflügel in der Luft hervorrufen.
Wir wissen ferner, dass dieser Luftwiderstand an Größe mindestens gleich dem Vogelgewichte sein muss, während seine Richtung der Anziehungskraft der Erde entgegengesetzt, also von unten nach oben wirken muss.
Da der fliegende Vogel eben mit keinem anderen Körper in Berührung ist als mit der ihn umgebenden Luft, so kann auch die ihn hebende Kraft nur aus der Luft selbst stammen, und die Luft oder Eigenschaften der Luft müssen es sein, welche das Tragen des fliegenden Vogels verursachen.
Diese hier tragend wirkende, durch Flügelbewegungen und Muskelarbeit in der Luft hervorgerufene Kraft kann daher nichts Anderes als Luftwiderstand sein, also diejenige Kraft, welche jeder Körper überwinden muss, wenn er sich in der Luft bewegt, oder der Widerstand, welcher sich dieser Bewegung entgegensetzt. Sie ist aber auch die Kraft, mit welcher bewegte Luft oder Wind auf die im Wege stehenden Körper drückt.
Wir wissen, dass diese Kraft mit der Querschnittsfläche des bewegten oder im Wege stehenden Körpers zunimmt, und im höheren Grade noch mit der Geschwindigkeit wächst, mit welcher der Körper durch die Luft bewegt wird oder mit welcher der Wind auf einen Körper trifft.
Auch auf die von oben nach unten geschlagenen Vogelflügel wird eine dieser Bewegung entgegenstehende also von unten nach oben wirkende Luftwiderstandskraft drücken, aber nur, wenn die Geschwindigkeit des Flügelschlages genügend groß ist, wird ein genügend großer Luftwiderstand entstehen, der imstande ist, das Herabfallen des Vogels zu verhindern.
Das Wiederaufschlagen der Flügel muss dabei unter anderen Bedingungen vor sich gehen, damit nicht auch die umgekehrte Kraft dabei entsteht, die den Vogel ebenso viel niederdrückt, als der Flügelniederschlag ihn hob.
Man kann sich vorläufig denken, dass vor dein Aufschlag die Flügel eine solche Drehung machen, dass möglichst wenig Widerstand beim Heben derselben in der Luft entsteht, oder dass die Luft beim Aufschlag teilweise zwischen den etwa in anderer Stellung befindlichen Federn des Flügels hindurch dringen kann, und so dem Aufschlag wenig Widerstand entgegensetzt.
Was noch an niederdrückende Wirkung beim Heben der Flügel entsteht, muss durch einen Überschuss an Hebewirkung beim Niederschlagen der Flügel wieder aufgehoben werden.
Hieraus ergibt sich nun, dass durch die Flügelschläge eines fliegenden Vogels ein Luftwiderstand entstehen muss, dessen Gesamtwirkung durchschnittlich gleich einer Kraft ist, welche eine Richtung nach oben und mindestens die Größe des Vogelgewichtes hat.