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Otto Lilienthal: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst, Berlin 1889

Kapitel 3

Die Fliegekunst und die Mechanik.

Wenn wir uns mit der Mechanik des Vogelfluges beschäftigen wollen, werden wir hauptsächlich mit denjenigen Kräften zu tun haben, die am fliegenden Vogel in Wirkung treten. Das Fliegen der Tiere ist weiter nichts als eine beständige Überwindung derjenigen Kraft, mit welcher die Erde alle Körper, also auch alle ihre Geschöpfe anzieht. Der fliegende Vogel aber spottet dieser Anziehungskraft vermöge seiner Fliegekunst und fällt nicht zur Erde nieder, obwohl die Erde ihn ebenso an sich zu ziehen und festzuhalten sucht wie ihre nicht fliegenden Lebewesen.

Das Fliegen selbst aber ist ein dauernder Kampf mit der Anziehungskraft der Erde und zur Überwindung dieses Gegners ist es wichtig, ihn zunächst etwas näher zu betrachten.

Die Anziehungskraft der Erde oder die Schwerkraft ist das Ergebnis eines Naturgesetzes, welches das ganze Weltall durchdringt und nach welchem alle Körper der Welt sich gegenseitig anziehen. Diese Anziehungskraft nimmt zu mit der Masse der Körper und nimmt ab mit dem Quadrate ihrer Entfernung. Als Entfernung der sich anziehenden Körper ist die Entfernung ihrer Schwerpunkte anzusehen.

Wenn daher ein Vogel sich höher und höher in die Luft erhebt, so kann man trotzdem kaum von einer Abnahme der Erdanziehung sprechen, denn diese Erhebung ist verschwindend klein gegen die Entfernung des Vogels vom Schwerpunkt oder Mittelpunkt der Erde.

Da wir der Erde so sehr nahe sind im Vergleich zu anderen Weltkörpern, so verspüren wir nur die Kraft, mit welcher wir von der Erde angezogen werden.

Das Gewicht eines Körpers ist gleich der Kraft, mit welcher die Erde diesen Körper an sich zieht. Als Krafteinheit pflegt man das Gewicht von 1 kg anzusehen und hiernach alle anderen Kräfte zu messen.

Die bildliche Darstellung einer Kraft geschieht durch eine Linie in der Kraftrichtung von bestimmter Länge je nach der Größe der Kraft.

Die Schwerkraft ist immer wie die Lotlinie nach dem Mittelpunkt der Erde gerichtet.

Die Anziehungskraft der Erde kann man wie alle anderen Kräfte nur durch ihre Wirkung wahrnehmen. Ihre sichtbare Wirkung aber besteht, wie bei allen Kräften, in Erzeugung von Bewegungen.

Wenn eine Kraft auf einen freien, ruhenden Körper stetig wirkt, so beginnt der Körper in der Richtung der Kraftwirkung sich zu bewegen und an Geschwindigkeit stetig zuzunehmen. Die Größe der Bewegung in jedem Augenblick wird durch den in einer Sekunde zurückgelegten Weg gemessen, wenn die Bewegung während dieser Sekunde gleichmäßig wäre. Man nennt diesen sekundlichen Weg die Geschwindigkeit eines Körpers.

Die Anziehungskraft der Erde oder Schwerkraft wird einem Vogel in der Luft, dein plötzlich die Fähigkeit des Fliegens genommen ist, eine nach unten gerichtete Bewegung erteilen, welche an Geschwindigkeit stetig zunimmt; der Vogel wird fallen, bis er an der Erde liegt.

Ein solches Fallen in der Luft gibt aber keine genaue Darstellung von der Wirkung der Schwerkraft, weil der Widerstand der Luft die Fallgeschwindigkeit sowie die Fallrichtung beeinträchtigt.

Die unbeschränkte Wirkung der Schwerkraft lässt sich daher nur im luftleeren Raum feststellen, und in diesem fällt jeder Körper ohne Rücksicht auf seine sonstige Beschaffenheit mit derselben gleichmäßig zunehmenden Schnelligkeit und zwar so, dass er am Ende der ersten Sekunde eine Geschwindigkeit von 9,81 in hat, die stetig und gleichmäßig zunimmt, sich also nach jeder ferneren Sekunde um 9,81 m vermehrt. Diese sekundliche Zunahme der Geschwindigkeit nennt man Beschleunigung. Die Beschleunigung der Schwerkraft ist also 9,81 m.

Auch an dem nicht aus der Luft geschossenen, fliegenden Vogel wird die Beschleunigung der Schwerkraft sichtbar sein; denn wenn der Vogel zu neuem Flügelschlage ausholt, setzt sofort die Schwerkraft mit ihrer Beschleunigung ein, und senkt den Vogel um ein Geringes, bis der neue Flügelniederschlag erfolgt, der den Vogelkörper um die gefallene Strecke wieder hebt und so die Wirkung der Schwerkraft ausgleicht.

Die Anziehungskraft der Erde ist aber nicht die einzige Kraft, die auf den Vogel wirkt, vielmehr verdankt er seine Flugfähigkeit gerade dem Auftreten verschiedener anderer Kräfte, mit denen er die Wirkung der Schwerkraft bekämpft.

Die Mechanik pflegt die Kräfte in 2 Klassen zu teilen, in treibende Kräfte, oder in Kräfte in engerem Sinne, und in hemmende Kräfte oder Widerstände.

Die treibenden Kräfte sind geeignet, Bewegungen zu erzeugen und, wie ihr Name sagt, als Triebkraft zu dienen.

Zu diesen Kräften haben wir außer der Schwerkraft z. B. auch die Muskelkraft der Tiere zu rechnen, sowie das Ausdehnungsbestreben des gespannten Dampfes, der gespannten Federn u.s.w.

Jede treibende Kraft kann aber auch als hemmende Kraft auftreten, insofern sie an einem in Bewegung befindlichen Körper dieser Bewegung entgegengesetzt wirkt und dadurch die Bewegung vermindert, wie es der Fall ist in Bezug auf die Wirkung der Schwerkraft an einem in die Höhe geworfenen Körper.

Zu den hemmenden Kräften gehört vor allem diejenige Kraft, deren Eigenschaften die Natur bei dem Fluge der Vögel in so vollkommener Weise ausnützt und mit der wir uns in diesem Werke ganz eingehend beschäftigen müssen, der so genannte „Widerstand des Mittels“, den jeder Körper erfährt, wenn er sich in einem Mittel, z. B. in der Luft, bewegt. Ein solcher Widerstand kann deshalb nie direkt treibend wirken, weil er durch die Bewegung selbst erst hervorgerufen wird, er dann aber diese Bewegung stets wieder zu verkleinern sucht und nicht eher aufhört, bis die Bewegung selbst wieder aufgehört hat.

Der Widerstand des Mittels, also der Widerstand des Wassers, sowie der Luftwiderstand kann nur in direkt als treibende Kraft auftreten, wenn das Mittel selbst, also das Wasser oder die Luft in Bewegung sich befindet, wovon alle Wasser- und Windmühlen und, wie wir später sehen werden, auch die segelnden Vögel ein Beispiel geben.

Fernere Widerstandskräfte sind beispielsweise die Reibung sowie die Kohäsionskraft der festen Körper, auch diese können nicht unmittelbar treibend wirken, sondern nur als Widerstand auftreten, wenn es sich um ihre Überwindung, z. B. beim Transport von Lasten und bei der Bearbeitung des Holzes, der Metalle oder anderer fester Körper handelt, wo der schneidende Stahl die Kohäsionskraft aufheben muss.

Eine Kraft ist zwar stets die Ursache einer Bewegung, aber wenn ein Körper sich nicht bewegt, so ist daraus noch nicht zu sch1ießen, dass keine Kräfte auf ihn einwirken. Wenn z. B. ein Körper auf einer Unterstützung ruht, so wirkt dennoch die Anziehungskraft der Erde auf ihn; ihr Einfluss wird nur aufgehoben, weil eine andere gleich große aber entgegengesetzt gerichtete Kraft zur Wirkung kommt, und zwar der Unterstützungsdruck, der von unten ebenso stark auf den Körper drückt, wie der Körper durch sein Gewicht auf die Unterstützung.

Hier heben sich die beiden wirksamen Kräfte gegenseitig auf und der Körper ist im Gleichgewicht der Ruhe.

Auch an dem in der Höhe schwebenden Vogel muss ein nach oben gerichteter Unterstützungsdruck wirksam sein, den der Vogel sich irgendwie geschafft haben muss, und welcher dem Vogelgewichte das Gleichgewicht hält.

Auch am fliegenden Vogel werden die wirksamen Kräfte sich zusammensetzen, wie die Mechanik es lehrt, sodass, wenn sie in gleicher Richtung auftreten, sie sich in ihrer Wirkung ergänzen, und wenn sie entgegengesetzt gerichtet sind, sich ganz oder teilweise aufheben, je nach ihrer Größe.

Auch Kräfte, welche nicht nach derselben Richtung am Vogelkörper wirksam sind, kann man nach der Diagonale des aus diesen Kraftlinien gebildeten Parallelogramms zusammensetzen, ebenso, wie man eine Kraft nach dem Parallelogramm der Kräfte in zwei oder mehrere Kräfte zerlegen kann, die dasselbe leisten wie die unzerlegte Kraft.

Auch die durch Kräfte hervorgerufenen Bewegungserscheinungen werden am Vogel sich nicht anders äußern als an jedem anderen Körper.

Wenn eine Kraft einen Körper in Bewegung gesetzt hat und hört dann auf zu wirken, oder eine andere Kraft tritt hinzu, welche der ersten Kraft das Gleichgewicht hält, so bleibt der Körper in Bewegung, aber mit derselben Geschwindigkeit und in derselben Richtung, die er im letzten Augenblicke hatte, als er noch unter dem Einflüsse einer einzigen Kraftwirkung stand; er ist dann im Gleichgewicht der Bewegung und keine wirksame Kraftäußerung findet mehr statt, obgleich Bewegung vorhanden ist.

In solcher Lage befindet sich der Körper eines mit gleichmäßiger Geschwindigkeit dahinfliegenden Vogels. Auch hier herrscht Gleichgewicht unter den Kräften, weil der Vogel durch seine Flügelschläge nicht bloß eine Kraftwirkung hervorruft, wodurch er die Schwerkraft aufhebt, sondern er überwindet auch dauernd den Widerstand, den das Durchschneiden der Luft nach der Bewegungsrichtung verursacht.

Wie nun die Natur aus dem ewigen Spiel der Kräfte an der gleichfalls ewigen Materie sich bildet, bringt der Mensch das Kräftespiel durch Wirkung und Gegenwirkung in der Technik zum bewussten Ausdruck.

Einfach erscheint uns der Vorgang, wenn wir durch die Kraft unseres tretenden Fußes die Drehbank oder den Schleifstein in Bewegung setzen, um die Metalle zu bearbeiten und so die Muskelkraft unseres Beines zur Überwindung der Kohäsionskraft und Reibung verwenden. Nicht minder einfach bei richtiger Zergliederung sind die Überlegungen, welche uns dahin fahren, die im Brennmaterial schlummernde Kraft als Dampfkraft in

Tätigkeit treten zu lassen, wenn es sich darum handelt, Widerstände zu überwinden, denen unsere Muskelkraft nicht gewachsen ist.

Auch die Zeit kann einmal kommen, wo die Flugtechnik einen wichtigen Teil der Beschäftigung des Menschen ausmacht, wenn far die Fliegekunst jene große Überbrückung aus dem Reiche der Ideen in die Wirklichkeit stattfinden sollte, wenn der erste Mensch in klarer Erkenntnis derjenigen Mittel, welche eine übergroße Kraftäußerung beim wirklichen Fliegen entbehrlich machen, einen freien Flug durch die Luft unternimmt.

Sei es, dass jener Mensch seinen Flügelapparat, was wünschenswert wäre, so anzuwenden versteht, dass seine Muskelkraft ausreicht, ihn die erforderliche Bewegung machen zu lassen, sei es, dass er zur Maschinenkraft greifen muss, um seine Flügel mit dem erforderlichen Nachdruck durch die Luft zu führen; in jedem Falle gebührt ihm das Verdienst,. zum ersten Male Sieger geblieben zu sein in jenem Ringen, welches sich um die Überwältigung der zum Fliegen notwendigen Kraftanstrengung entsponnen hat.

Die Größe dieser Kraftanstrengung, dieser Arbeitsleistung müssen wir unbedingt kennen lernen. Nur wenn dieses im vollsten Maße geschehen ist, können wir weiter auf Mittel sinnen, das große Problem seiner Verwirklichung entgegenzuführen.

Was aber ist Kraftanstrengung, was versteht man unter Arbeitsleistung beim Fliegen? Auch diese Begriffe können für die Fliegekunst nur dieselbe Bedeutung haben wie in der sonstigen Technik. Jede Kraft, wenn sie in sichtbare Wirkung tritt, leistet Arbeit, jeder Widerstand erfordert Arbeit zu seiner Überwindung. Arbeit ist nötig, um eine Anzahl Ziegelsteine auf das Baugerüst zu heben, Arbeit ist nötig, um das Wasser aus der Erde zu pumpen, Arbeit verursacht das Mischen des Mörtels mit dem Wasser, Arbeit ist auch erforderlich, um - einen Flügel durch die Luft zu schlagen.

Die Größe der Arbeit hängt ab von der Größe der Arbeit leistenden Kraft oder dem zu überwindenden Widerstande. Sie hängt ferner davon ab, auf welcher Wegstrecke diese Überwindung stattfindet.

Arbeitskraft und Arbeitsweg sind also Faktoren, aus denen die Arbeit sich zusammensetzt. Das Produkt aus diesen Faktoren, also „ Kraft mal Weg“ gibt einen Maßstab für die Arbeitsmenge.

Dieses Produkt aus der zu überwindenden Kraft und der Wegstrecke, auf welcher diese Kraft überwunden wird, nennt man „mechanische Arbeit“ und misst in der Regel die Kraft in Kilogrammen und den Weg in Metern. Das auf diese Weise gebildete Produkt bezeichnet man dann mit Kilogrammmetern (kgm).

Die Schnelligkeit, mit welcher eine derartige mechanische Arbeit geleistet wird, hängt von der Stärke oder Energie des dazu verwendeten Kraftaufwandes ab. Die zu einer Arbeitsleistung erforderliche Zeit ist also maßgebend für die Leistungsfähigkeit der Arbeit verrichtenden Kraft.

Die auf eine Sekunde entfallende mechanische Arbeitsleistung pflegt man als Maß dieser Arbeitskraft anzusehen, und in Vergleich mit derjenigen Arbeitsleistung zu stellen, welche ein Pferd durchschnittlich in einer Sekunde hervorzubringen imstande ist.

Ein Pferd kann eine Kraft von 75 kg in einer Sekunde auf einer Strecke von 1 m überwinden, es kann also sekundlich 75 kgm leisten. Hierbei ist gleichgültig, wie groß die Kraft und wie groß die sekundliche Geschwindigkeit ist, wenn nur das Produkt beider 75 beträgt.

Man nennt diese in einer Sekunde vom Pferde zu leistende Arbeit eine Pferdeleistung, Arbeitskraft des Pferdes oder kurz Pferdekraft, das Zeichen dafür ist „HP“.

Die Arbeitsleistung des Menschen beträgt ungefähr den vierten Teil einer Pferdekraft, wenn es sich um dauernde Kraftabgabe handelt Vorübergehend kann jedoch der Mensch bedeutend mehr leisten, besonders, wenn dabei die, stark mit Muskeln ausgerüsteten Beine zur Wirkung kommen, wie beim Ersteigen von Treppen.

Auf leicht Ersteigbahren Treppen kann man für kurze Zeit sein Gewicht um 1 in pro Sekunde heben. Ein Mann von 75 kg Gewicht leistet also dabei 75 ∙ 1 = 75 kgm oder eine Pferdekraft (HP).

Für die Größe der Arbeit ist nur die Größe der zu überwindenden Kraft und nur der in die Richtung der Kraft fallende sekundliche Weg oder die Geschwindigkeit maßgebend, mit welcher die Kraft zu überwinden ist, nicht aber die Richtung dieser Kraft oder des Oberwindungsweges; denn diese Richtung lässt sich durch einfache mechanische Mittel beliebig ändern.

Indern nur noch auf die hebelartige Wirkung der Flügel und die dabei zur Anwendung kommenden Gesetze der Kraftmomente, in denen der Luftwiderstand am Flügel sich äußert, hingewiesen werden soll, erscheint die Fliegekunst als ein mechanisches Problem, dessen Zergliederung die nächste Aufgabe sein soll.