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Vorwort zur Neuauflage

Als das Buch "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" 1889 erschien, war es alles andere als eine Sensation. Im Gegenteil, Otto Lilienthal musste die Kosten für den Druck selbst übernehmen um die Erstauflage von 1000 Stück zu ermöglichen. Noch 7 Jahre später ist der überwiegende Teil der Auflage "vorrätig". Heute gehört die Erstausgabe des Buches zu den bibliophilen Kostbarkeiten ersten Ranges und zu den wenigen Büchern, die große technische Entwicklungen voraussahen und nach sich zogen.

Das Buch ist eine allgemeinverständliche physikalische Abhandlung über die Grundlagen des Fliegens, geschrieben von einem Ingenieur, den das Geheimnis des Vogelflugs und seine Nachahmung sein Leben lang nicht los ließ, auch wenn ihm sein Leben nur etappenweise gestattete, sich diesem Thema zu widmen. Geschrieben nicht aus wissenschaftlichem Antrieb, aus dem Erkenntnisdrang des Forschers, sondern eher auf Grund der Feststellung des verhinderten Fliegers, dass das, was die Physik seiner Zeit zur Beschreibung des Phänomens Fliegen zu sagen hatte nicht ausreichen würde, um seinen persönlichen Traum vom Menschenflug zu verwirklichen.

Der Entwurf des Menschenflügels brauchte einen physikalischen Konstruktionsplan, den die Physikbücher seiner Zeit nicht lieferten. Lilienthal widmete sich der Physik des Fliegens gewissermaßen vorübergehend, aus der Erkenntnis heraus, dass er zunächst das theoretische Fundament für den Menschenflug legen müsse, ehe er sich praktischen Flugversuchen widmen konnte. Übrigens beschreiben die Gebrüder Wright ein Jahrzehnt später ihr Herangehen ganz ähnlich.

Dass das Buch zur entscheidenden Zäsur der Luftfahrtgeschichte werden würde, das ahnte wohl auch Lilienthal nicht. Zunächst war es eine entscheidende Zäsur in seinem persönlichen Leben, in dem der Traum vom Fliegen, vom "persönlichen Kunstflug", wie er wenige Jahre später seine Technik des vogelgleichen Gleitfluges nennen wird, bis in früheste Kindheit zurückverfolgbar ist, ohne jedoch je sein Leben zu dominieren. Lilienthal glaubte zu Recht, mit der Veröffentlichung die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen zu haben, um sich nun mit dem Bau von manntragenden Flugapparaten, mit der Verwirklichung des Menschenflugs beschäftigen zu können. Es hätte ihm große Freude bereitet, die Verwirklichung dieser Erfindung zu seinem Lebensinhalt zu machen. Aber er war Realist genug zu wissen, dass sich dieser Traum nicht erfüllen würde. So war er vieles: Dampfmaschineningenieur, sozial und kulturell engagierter Inhaber der 1883 von ihm gegründeten Berliner Maschinenfabrik, die er als mittellose Halbwaise aus seinen Patenten und Ideen, vor allem aus seinem gefahrlosen Dampfkessel für das Kleingewerbe entwickelte. Er war Humanist und, wie nach seinem Unfalltod im Jahre 1896 von dem einflussreichen Sozialethiker Moritz von Egidy formuliert, "an allen ernsten Kulturbestrebungen seiner Zeit interessiert, und dabei von zartem Gemüt."

In sofern trügt unser Bild der großen Techniker und ihrer Lebensleistungen, in die man "Otto Lilienthal - den ersten Flieger der Menschheit" einreiht. In seinem Fall ist die heute mit seinem Namen verbundene Erfindung eingebettet in ein breites und facettenreiches Lebenswerk, das zahlreiche Spuren hinterlassen hat. Eine dieser Spuren, das Flugzeug, hat die Welt verändert. Lilienthal hatte diese Wirkung vor Augen, wenn auch auf eine Weise, die sich nur zum Teil erfüllte. Zwei große Visionen hat er mit dem "Kulturelement Flugzeug", wie er sagte, verbunden: den weltumspannenden Luftverkehr und den ewigen Frieden. Hat sich die erste Vision mit atemberaubender Geschwindigkeit verwirklicht, so hat uns die Geschichte und die technische Potenz des Flugzeugs vom ewigen Frieden weiter entfernt als es für seinen Erfinder vorstellbar gewesen wäre. Es ermöglichte die fast uneingeschränkte Ausdehnung des Kriegsschauplatzes und diente als Träger immer neuer Vernichtungswaffen. Jüngst waren es gar Verkehrsflugzeuge die, auf Gebäude gelenkt, eine neue Ära und Begründung des Krieges einleiteten.

Eine Zäsur seines Lebens war das Buch insofern, als Lilienthal in ihm einen Abschluss sieht, den Abschluss der für den Menschenflug erforderlichen Vorarbeiten. Das Buch ist ein populärwissenschaftliches Physikbuch, es enthält 80 Holzschnitte und ein Aquarell des Autors und nicht zuletzt einige Verse, darunter ein anderthalb seitiges Gedicht mit den an verschiedenen Denkmalen zitierten Textzeilen: "Die Macht des Verstandes, o, wend sie nur an, Es darf dich nicht hindern ein ewiger Bann, Sie wird auch im Fluge Dich tragen! Es kann deines Schöpfers Wille nicht sein, Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih'n, Dir ewig den Flug zu versagen!" So die Ansprache des Storches, Lilienthals wichtigstem Studienobjekt, an den Menschen.

Lilienthal fasst in seinem Buch über zwanzig Jahre der Vorarbeiten zusammen. Bei genauerem Hinsehen sind es aber im wesentlichen zwei Versuchsserien, die den physikalischen, und bis heute sensationellen Inhalt des Buches bilden: 1874 hat Lilienthal mit seinem Bruder Gustav und der Schwester Marie eine perfekt geplante und in ihrer Umsetzung geniale Versuchsserie durchgeführt, die Auftrieb und Widerstand einer nur in wenigen Parametern variierten Modellfläche ermittelt. Er hat damit nicht nur das "Geheimnis" des gewölbten Vogelflügels messbar gemacht, sondern auch Begriffe und Auswertemethode für Tragflügelbeschreibungen eingeführt, die wir bis heute benutzen. Seine Leistung liegt dabei wesentlich in der Abstraktion: Er erkannte intuitiv und experimentell die entscheidenden Parameter des Flügels und abstrahierte in den Versuchen von den übrigen. Das machte den Tragflügel erstmals in der Geschichte messbar.

Die Gründung seiner beruflichen Existenz, die Auswanderung des Bruders und der Schwester nach Australien, die Gründung seiner Familie und seiner Firma ließen die Ergebnisse aber viele Jahre ruhen. 1888 sieht Otto Lilienthal und sein inzwischen wieder nach Deutschland zurückgegehrter Bruder den Zeitpunkt für die Veröffentlichung gekommen. Erst jetzt können sie sich die Veröffentlichung auch finanziell leisten. Ihre Erkenntnisse sehen sie so aktuell und durch keine Entwicklung überholt, wie vor 14 Jahren. Mit einer Ausnahme: Der Engländer Phillips hat inzwischen ein Patent angemeldet, in dem ein gewölbter Tragflügel beschrieben wird. Diese wichtigste Erkenntnis war so nicht mehr patentierbar. Trotzdem sollten die über ein Jahrzehnt alten Ergebnisse nicht kritiklos veröffentlicht werden. Lilienthal entschießt sich zu einem neuen Messprogramm, in dem alle Messwerte mit veränderten Flügelgrößen erneut verifiziert werden sollen. Die Ergebnisse bestätigen ihre früheren Messungen so vollständig, dass ihrer Veröffentlichung nun nichts mehr im Wege steht.

Das letzte Kapitel zeigt deutlich Lilienthals Interesse: Nicht wissenschaftliche Erkenntnis war sein vorrangiges Ziel, sondern die Schaffung der praktischen Voraussetzungen für den Menschenflug, seinen ganz persönlichen Traum vom Fliegen. So endet das Buch mit "Gesichtspunkten, nach denen die Konstruktion der Flugapparate zu erfolgen hätte, wenn die in diesem Werke veröffentlichten Versuchsresultate berücksichtigt werden, und die demzufolge entwickelten Ansichten richtige sind."

Tatsächlich liegen zwischen der Veröffentlichung der "Konstruktionsprinzipien" und den ersten erfolgreichen Flügen über wenige Meter, die dann mit großer Geschwindigkeit zum sicheren Gleitflug und zum Flugzeug im heutigen Sinne führten, gerade 2 Jahre. Die Zäsur in Lilienthals Leben war nun auch ganz praktischer Art. Von nun an erforderte die Beschäftigung mit dem Flugproblem nicht zeitlich begrenzte, planbare Experimente, sondern ein kontinuierliches Konstruktions- und Trainingsprogramm, zu dem Lilienthal auch erst jetzt fähig war: die Suche nach geeignetem Fluggelände, das Errichten eines künstlichen Flugplatzes, die Herstellung und Erprobung einer ganzen Serie von Flugapparaten von 7 bis 10 Metern Spannweite. Die Gebrüder Wright haben dies als Lilienthals größte Leistung bezeichnet: die Verlagerung des Flugproblems "an den Ort, wo es hingehört, nämlich in den natürlichen Wind".

Viel spricht dafür, dass Lilienthal eine Fortsetzung des Buches plante, welches die praktischen Flugversuche zum Inhalt hatte. Dazu kam es nicht. 1896 stürzte Lilienthal bei einem Routineflug, einem von inzwischen Tausenden, aus mehr als 10 Metern Höhe ab und verletzte sich so erheblich, dass er den Unfall nur einen Tag überlebte.

Im Jahre 1910, die Gebrüder Wright hatten ihre sensationellen Flugvorführungen in Berlin absolviert und eine Flugzeugfabrik eröffnet, erschien eine zweite Auflage des Buches. Gustav Lilienthal wollte der Tatsache Rechnung tragen, dass der verwirklichte Menschenflug, für den sein Bruder inzwischen berühmt war, im Buch noch nicht vorkommt. Er ergänzte es um ein Vorkapitel, "Die Entwicklung" und dem inzwischen realisierten Motorflug Rechnung tragend um einen Nachtrag: "Gleitflieger und Flugmaschinen, verglichen mit unseren Messungen" . Die zweite Auflage wurde ein Jahr später ins Englische übersetzt und ist heute ebenfalls als Reprint erhältlich. Eine Übersetzung ins Russische war bereits 1905 erschienen. Nur das Gedicht über den Storch fehlt in der englischen Ausgabe.

Die dritte Auflage des Buches erscheint 1938, nun bereits unter allgemeiner Wertschätzung von Lilienthals Rolle am Scheitelpunkt zwischen der Kulturgeschichte eines alten Menschheitstraums und der Technikgeschichte des Flugzeugs. Sie wird durch ein Vorwort des international führenden Aerodynamikers Ludwig Prandtl ergänzt. Der Text ist nun wieder eine Faksimile-Ausgabe der ersten Auflage, mit handschriftlichen Korrekturen, die Otto Lilienthal im Text der ersten Auflage angebracht hat.

Inzwischen sind zahlreiche Nachdrucke des Buches erschienen. 1996, im 100. Todesjahr Lilienthals hat der Verlag von R. Oldenburg in München und Berlin, Herausgeber der Originalausgabe von 1910, einen anspruchsvollen Nachdruck der 2. Auflage herausgegeben. Leider ist auch diese inzwischen vergriffen. Es ist dem noch jungen Otto-Lilienthal-Museum deshalb eine angenehme Pflicht, die Initiative für eine Neuauflage der Deutschen Originalausgabe zu ergreifen. Dem Verlags- und Druckhaus Steffen in Friedland, nur wenige Kilometer von Lilienthals Geburtstadt Anklam entfernt, ist es zu danken, dass diese Neuauflage ermöglicht wurde.

Heute ist Lilienthals Rolle in der Entwicklung des Menschenflugs weltweit unumstritten. Seine Arbeiten wurden zum Meilenstein auf der Weg der Entwicklung zum Flugzeug: Im Dezember 2003 feiert das Motorflugzeug der Gebrüder Wright seinen 100. Geburtstag. Die Orte des Wirkens der Wrights sind in den USA "National Monuments", Inbegriff für den amerikanischen Mythos vom erfolgreichen Meistern des Unbekannten und Unerforschten durch eine starke Idee. Die Wrights haben Lilienthals Buch als das Beste bezeichnet, was über 20 Jahre auf dem Gebiet der Flugtechnik gedruckt vorlag und sich als Schüler und Verehrer Lilienthals bezeichnet. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt der Umgang mit Lilienthal in Deutschland unangemessen: Die Flugplätze Lilienthals sind zwar zu finden, aber weit entfernt von nationaler Wertschätzung. Der Platz, an dem erstmals in der Geschichte ein Flugzeug in Serie produziert und in mehrere Länder verkauft wurde, die Maschinenfabrik Otto Lilienthal im Herzen Berlins gibt es nicht mehr, und nichts erinnert an diesen geschichtsträchtigen Ort.

Es ist heute nicht mehr nötig, Lilienthals Buch durch eine Beschreibung der erfolgreichen Flugjahre 1891- 1896 zu ergänzen. Lilienthals wenige erhaltene Flugapparate sind heute die Highlights luftfahrthistorischer Sammlungen zwischen Washington und Moskau. Sein flugtechnischer Nachlass ist im Deutschen Museum München auf 300 Katalog-Seiten dokumentiert. Das Otto-Lilienthal-Museum in Anklam zeigt Rekonstruktionen aller nicht erhaltenen Flugapparate, hat Lilienthals flugtechnischen Briefwechsel veröffentlicht. Die Internet-Publikation www.lilienthal-museum.de referiert die gesamter flugtechnische Bibliografie, bietet ein vollständiges Bildarchiv der sensationellen Bilder in der Geburtsstunde der Momentfotografie und den Katalog aller bekannten Flugmodelle auf dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis.

Der Weg der Technik zum Flugzeug und Lilienthals Platz auf diesem Weg sind heute eingehend beschrieben. Ein Defizit liegt eher in der Wahrnehmung der Rolle, die das Flugzeug in Lilienthals Leben selbst spielte. Sein fliegerischer Durchbruch war eingebettet in ein breites Spektrum technischer, unternehmerischer, kultureller und sozialer Aktivitäten die sich einem schlüssigen Weltbild unterordneten. Aus diesem Grunde soll Lilienthals Buch nicht um seine Jahre erfolgreicher Flugtechnik ergänzt werden, sondern um die Vision, die er mit der Erfindung des Fliegens verband:

"Unser Kulturerleben krankt daran, dass es sich nur an der Erdoberfläche abspielt. Die gegenseitige Absperrung der Länder, der Zollzwang und die Verkehrserschwerung ist nur dadurch möglich, dass wir nicht frei wie der Vogel auch das Luftreich beherrschen. Der freie, unbeschränkte Flug des Menschen, für dessen Verwirklichung jetzt zahlreiche Techniker in allen Kulturstaaten ihr Bestes einsetzen, kann hierin Wandel schaffen und würde von tief einschneidender Wirkung auf alle unsere Zustände sein.

Die Grenzen der Länder würden Ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Unterschiede der Sprachen würden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen sich verwischen. Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen." -

Otto Lilienthal, 1894.

Bernd Lukasch
im Oktober 2003
Otto-Lilienthal-Museum Anklam