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(5. Soester Niflungen-Tagung, 2.-4. Juni 2000)

Fliegen wie ein Vogel

Die Idee vom Menschenflug und die Geschichte der Luftfahrt

Bernd Lukasch

Die Geschichte der menschlichen Luftfahrt wurde besonders seit der Geburt des Flugzeugs von unzähligen Autoren geschrieben und liest sich heute relativ einheitlich: Man unterscheidet nach dem physikalischen Prinzip zunächst die beiden grundsätzlichen Richtungen "leichter als Luft" - den Ballon und das spätere Luftschiff und "schwerer als Luft" - das Flugzeug, den Hubschrauber und verwandte Entwicklungen. Die Geburt des Ballons ist auf 1783 datiert, als in Frankreich die ersten Menschen mit dem Heißluftballon der Gebrüder Montgolfier und dem Wasserstoffballon von Prof. Charles aufstiegen. Die Geburt des Flugzeugs wird mit zwei herausragenden Ereignissen in Verbindung gebracht: den erfolgreichen Gleitflügen des Deutschen Otto Lilienthal von 1891 bis 1896 und den ersten Flügen des eigenstartfähigen Motorflugzeugs der Gebrüder Wright (USA) im Jahre 1903. Natürlich füllt die Geschichte der Luftfahrt umfangreiche Chroniken, finden sich vor und nach den genannten Ereignissen unzählige herausragende Pionierleistungen. Auch sind die "ersten" Flüge nicht unumstritten, von früheren wird berichtet, die nicht gesichert sind oder die Entwicklung nicht nachhaltig beeinflussen konnten.

Foto

Otto Lilienthal in seinem "kleinen Flügelschlagapparat", 1894

Aus zwei anderen Gründen aber nimmt die Erfindung des Fliegens unter den technischen Pionierleistungen eine besondere Stellung ein: Zum einen beschreibt das oben nachgezeichnete Geschichtsbild nur die im heutigen Sinne technische Epoche des Menschenflugs. Der Fesseldrachen findet als wichtigster Vorfahre des Flugzeugs nur selten Erwähnung. Er ermöglichte zwar zunächst keinen freien Flug (keinen Streckenflug sollte man richtiger sagen - denn die Freiheit der Ballonfahrt ist nicht weniger eingeschränkt), bemannte Aufstiege fanden aber mit Sicherheit bereits viele Jahrhunderte früher statt. Idee und Antrieb des Menschenfluges waren aber im Ursprunge nicht wie heute der Wunsch, sich durch die Luft fortzubewegen, sondern viel mehr die Eroberung des Himmels, das Verlassen der Erdoberfläche, des irdischen Jammertales. Das ist der zweite Grund: Mit der Technikgeschichte des Flugzeugs ist wie mit nur wenigen anderen Erfindungen eine Kulturgeschichte der Idee des Menschenflugs verbunden, die sich unabhängig von der Technikgeschichte des Fliegens ohne zeitliche Grenze zurückverfolgen lässt und die mit der Verwirklichung des Flugzeugs keineswegs endet: "I dream, I can fly" heißt es in den Hitparaden des Jahres 1999. Und "so erfüllen sich unsere Träume, wie das Fliegen, einer nach dem anderen zu Tode. Kannst Du einen neuen Traum haben?", schreibt der Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti.

Ganz natürlich erwächst aus überlieferten Flugdarstellungen auch die Frage nach dem Hintergrund der Beschreibungen jenseits gesicherter Überlieferung. Was war die Taube des griechischen Mathematikers Archytas von Tarant (um 400 v. Chr.)? Waren die Flüge des Schlossers Besnier (1678) und die "Nachricht von dem fliegenden Schiffe so aus Portugal den 24. Junii [1709] in Wien mit seinem Erfinder glücklich ankommen" wirklich nur Zeitungsenten? Woher stammen die erstaunlichen technischen Details in den Flugbeschreibungen von Ikarus, Dädalus oder Wieland dem Schmied?

Foto Museumsmodell

"la Paserola (der große Vogel)", 1709, angeblich erfolgreiches Projekt des brasilianisch-portugisischen Geistlichen Bartholomeo Lourenco de Gusmao für ein Luftfahrzeug mit Elementen von Flugzeug und Luftschiff unter Verwendung von Bernstein, Magneteisenstein und anderen Erfindungen.
Modell nach hist. Abbildung: H. Serowski, Otto-Lilienthal-Museum

Besonders in Hinblick auf die in der Thidrekssaga beschriebenen Flüge des Wieland sollen im Folgenden zwei geschichtliche Ereignisse näher betrachtet werden:

  • 1. Die Flüge Lilienthals und die von ihm geschaffenen technischen Voraussetzungen für sein Fluggerät, das die vermeintlich ersten reproduzierbar sicheren Gleitflüge der Geschichte ermöglichte und
  • 2. Die Entwicklung des Hängegleiters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das heute als technische Minimalform eines Fluggerätes gelten kann.

Vorbild Vogel

Die älteste bekannte bildliche Darstellung eines Menschenfluges wird auf 2350 bis 2150 vor Christus datiert und ist auf einem etwa 4 cm hohen Siegelzylinder in der vorderasiatischen Sammlung des Berliner Pergamon-Museums bewahrt. In frischem Ton abgerollt wird ein etwa 10 cm langes Relief sichtbar, welches den auf einem Adler reitenden Hirten Etana erkennen lässt.

Foto Ton-Relief
Luftfahrt in der sumerischen Mythologie: Tonabrollung eines Siegelzylinders (vorderasiat. Sammlung SMPK Berlin)

Legenden, Sagen und Bilder fliegender Menschen sind keine Seltenheit. Wann mischte sich Reales in die Geschichten? Seinen Göttern verlieh der Mensch die Fähigkeit zu fliegen ebenso wie Fabelwesen und Dämonen. Mit der Fähigkeit höherer Wesen einher ging der Traum, der Wunsch, der Versuch und das Bedürfnis des Menschen, die Fähigkeit zu fliegen auch selbst zu erwerben.

Es kann nicht verwundern, dass frühe Versuche zur Realisierung des Menschenflugs dort ansetzen, wo dem Menschen die körperlichen Voraussetzungen zum Flug nach dem allgegenwärtigen Vorbild des Vogelflugs ganz offensichtlich fehlen: Der Mensch braucht Flügel. Mit ihnen müsste es gelingen, das Luftmeer ebenso souverän zu beherrschen, wie Vögeln und Insekten. So versuchte der Mensch immer wieder, seine ausgebreiteten Arme zu Flügeln werden zu lassen. Was aber sind Flügel? Was war das Wesentliche der Vogelflügel, das den Vögeln die Fähigkeit zu fliegen verlieh? Lag das Geheimnis des Fluges im Federkleid verborgen, im Knochenbau, haben sie gar spezielle Flugorgane oder war der Schlüssel in den raffinierten Bewegungen der Flügel zu suchen? Man war ahnungslos und doch erschien das Fliegen der Vorbilder geradezu wie eine Selbstverständlichkeit. Zahlreiche gescheiterte Versuche oder vermeintliche Flüge sind überliefert. Trotzdem ist weder anzunehmen, dass die Überlieferungen vollzählig oder repräsentativ sind, noch dass sich Wahrheit und Legende eindeutig trennen lassen. Es ist eher ein zufälliges Kaleidoskop des alten Menschheitstraumes und der verschiedenen Projekte zu seiner Erfüllung. Fast alle Versuche finden nach ein und demselben Muster statt: Der vermeintliche Erfinder hat nun endlich das wesentliche Detail gefunden, welches den künstlichen Flügeln die Fähigkeit zu fliegen verleiht. Und er steigt auf einen Turm oder eine andere Erhöhung. Der erste Flug schon muss gelingen, denn Sicherheitsvorkehrungen sind nicht getroffen. Und ein Wesentliches kommt hinzu: Der Erfinder kann sein Gerät, so meint er, auf Anhieb steuern. Keine Übung ist nötig, wie das Kleinkind doch Monate braucht, um unter einfacheren und ungefährlicheren Bedingungen, am Erdboden, die Beherrschung des Gleichgewichtes zu erlernen. Für den dreidimensionalen Raum fasste keiner der Erfinder dieses Problem ins Auge. Fliegen hieß für alle, funktionierende Flügel zu haben, nicht aber Fliegen zu lernen.

Aus heutiger Sicht erscheint Luftfahrtgeschichte, bevor sich im 17. Jahrhundert erste Erkenntnisse über die Lufthülle einstellten und im ausgehenden 18. Jh. die ersten Erkenntnisse auf dem Weg zum Flugzeug dazukamen als erfolgloses Suchen auf ewig gleicher Stufe. Deutlich herausragend sind dabei die Erkenntnisse des Leonardo da Vinci. Man vermutet heute jedoch, dass diese nicht nur das Wissen seiner Zeit zusammenfassen, sondern auch nicht von praktischen Versuchen begleitet waren.

Otto Lilienthal

Auf den ersten Blick war auch Lilienthal (1848 - 1896) noch Vogelmensch, Vertreter des "Ikaridentraumes", der mit den künstlichen, an seinen Armen befestigten Flügeln im Gegensatz zu seinen Vorgängern jedoch durch zahlreiche Fotografien belegbar erfolgreich war. Aber nicht nur das gesicherte Wissen über seinen Erfolg unterscheidet ihn von seinen Vorgängern: Bei genauerem Hinsehen ist Lilienthals vogelähnliches Fluggerät nicht ein neuer, diesmal erfolgreicher Versuch in der langen Geschichte der Versuche, den Vogelflug zu kopieren, sondern das Studium des Vogelflugs war bei ihm experimenteller Ausgangspunkt für ein Forschungsprogramm, an dessen Ende der manntragende Flugapparat stand. Auf der Grundlage von Naturbeobachtungen überführte er die Untersuchung des Vogelflug ins Laborexperiment, um seine Erkenntnisse im Rahmen einer in weiten Zügen bis heute gültigen physikalischen Form auf die Erfordernisse des Menschenfluges zu übertragen.

Grafik

Abb. aus Lilienthals Buch über den Vogelflug

Lilienthals Interesse an den physikalischen Grundlagen des Fluges war ein klares: Er wollte fliegen. Er erkannte schnell und richtig, dass der Erkenntnisstand seiner Zeit auf diesem Gebiet völlig unzureichend für dieses Ziel war. Das führte ihn dazu, sein Interesse Jahrzehnte zurückzustellen, und sich einem umfangreichen aerodynamischen Messprogramm zu widmen. Nach über 20 Jahren physikalischer Experimente ohne jeden praktischen Flugversuch fasste Lilienthal seine Erkenntnisse 1889 in dem Buch "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" zusammen. Lilienthal beschreibt die Flugtechnik als Tummelplatz für Laien, "Gefühlsmechaniker" und nur wenige Fachleute. Sein Buch wendet sich an alle. Es ist ein populäres Physikbuch und führt in klarer Gedankenführung bis zum von Lilienthal selbst geschaffenen aktuellen Stand. Aber auch der Vogelflugforschung gilt es heute als Standardwerk. Ohne Übergang und Bruch gleitet der Text hinüber in ein langes Gedicht, eine Botschaft des Storches an den Menschen, deren Zeilen Vorlage für Denkmalsinschriften an verschiedenen Orten waren. Neben einem Aquarell kreisender Störche ist das Buch mit 80 Holzschnitten Lilienthals illustriert. Unter der Überschrift "Grundprinzip des freien Fluges" führt Lilienthal in populärer aber absolut exakter Weise in die Mechanik ein. Mit der einprägsamen physikalischen Formel: "Alles Fliegen ist Erzeugen von Luftwiderstand, alle Flugarbeit ist Überwinden von Luftwiderstand" hat Lilienthal das Problem des Tragflügels vollständig charakterisiert. Lilienthal hat aus der sogenannten "Physik der tropfbaren und luftförmigen Medien" die spezielle flugtechnische Fragestellung herauskristallisiert und ist damit der Urheber der experimentellen Tragflügel-Aerodynamik. Die Erkenntnis der notwendigen Flügelwölbung wird oft als seine zentrale Leistung bezeichnet. Richtig ist, dass er als erster in völliger Klarheit die physikalische Frage nach dem Wesen des künstlichen Flügels gestellt hat, auf die die gewölbte Fläche die Antwort ist. Als 1895 in der Berliner Akademie die Gedächtnisrede auf den Nestor der Berliner Physik, Hermann Helmholtz, gehalten wird, finden Lilienthals Messungen mit Bezug auf eine theoretische Helmholtz-Arbeit in dieser Gedenkrede Erwähnung.

"Diese Versuche", so schreibt Lilienthal im Vorwort seines Buches, "über einen Zeitraum von 23 Jahren sich erstreckend, konnten jetzt zu einem gewissen Abschluss gebracht werden, indem durch die Aneinanderreihung der Ergebnisse ein geschlossener Gedankengang sich herstellen ließ..." Das Buch endet mit "Grundsätzen nach denen die künstlichen Flugapparate hergestellt werden sollten, wenn die hier dargelegten Erkenntnisse denn richtige sind."

Lilienthal vereinigte in ganz besonderer Weise theoretische, technische, handwerkliche und sportliche Fähigkeiten, die ihn befähigten, zum ersten Flieger der Menschheit zu werden. Er schuf das theoretische Rüstzeug für den Menschenflug, konstruierte daraus das geeignete Fluggerät und verwirklichte es, weitgehend selbständig. Er besaß die körperliche Konstitution, Mut und Geschicklichkeit, um dieses von ihm geschaffene Fluggerät auch selbst zu erproben, um gewissermaßen als Konstrukteur auch Versuchspilot zu sein, und die Konstruktion des Flugzeugs während der praktischen Erprobung zu vervollkommnen. Die Vielseitigkeit in Lilienthals Tätigkeit, die Breite seiner Interessen und sein fachübergreifendes Herangehen waren sicher wesentliche Gründe für seinen Erfolg.

Als Missionar des Menschenflugs haben die Gebrüder Wright Lilienthal später bezeichnet. Er war in Vorträgen so mitreißend und überzeugend, dass er seine Zuhörer immer in seinen Bann zog. Lilienthal ist exklusiver Fachmann auf dem Gebiet der Flugtechnik seiner Zeit. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang, zahlreiche wurden übersetzt. Lilienthal gehört der technischen Kommission des Vereins zur Förderung der Luftschifffahrt an, war Jahre Mitglied der Aeronautical Society of Great Britain. Er schrieb zahlreiche Rezensionen zu flugtechnischen Veröffentlichungen, führte eine umfangreiche Korrespondenz mit Flugtechnikern in aller Welt.

Aufbauend auf Lilienthals Erkenntnissen begannen die Gebrüder Wright nach dem Tod Lilienthals in den USA ein eigenes Forschungsprogramm, welches deutlich über Lilienthals Arbeiten hinausging, und vom Hängegleiter zum Konzept unseres heutigen Flugzeugs führte.

Fesseldrachen und Flugdrachen

Wenn der Schriftsteller und Flieger Saint de Exupéry die Entwicklung als den Weg vom Primitiven über das Komplizierte zum Einfachen beschreibt, so waren das Primitive sicher die künstlichen Vögel Lilienthals und das komplizierte ist unser heutiges Flugzeug. Das "Einfache" hat Exupéry nicht mehr miterlebt: die Entwicklungen des NASA-Ingenieurs Francis Melvin Rogallo. Sie wurden zwar nicht, wie ursprünglich vorgesehen, für die Weltraumfahrt genutzt, dafür haben sie als die Flugidee, die dem freien Flug der Vögel am nächsten kommt, seit den 70-er Jahren eines Siegeszug um die Welt angetreten. Von besonderem Interesse sind für uns die Flexfoil und der Urtyp des Rogallo-Flügels als die Minimalform eines manntragenden Fluggerätes. Interessant sind sie für uns in zweifacher Hinsicht: Erstens gestatten sie den freien Menschenflug mit einem kaum zu unterbietenden Material- und Technologieaufwand: Etwa 10 m2 Gewebe oder Folie aufgespannt durch 4 Streben (Rogallo) oder durch einige Leinen (Flexfoil). Zweitens ist ihr Ursprung in dem bereits vor Jahrtausenden bekannten Flächendrachen (Fesseldrachen) asiatischen Ursprungs zu sehen und die Entwicklung, obwohl innerhalb eines NASA-Programmes mit dem entsprechenden wissenschaftlichen Hintergrund weiterentwickelt, vom zweifelsfrei erforderlichen technischen Entwicklungsstand her fast zeitlos zu nennen. Es ist keine quasi unüberwindbare zeitliche Schwelle anzugeben, jenseits der diese Erfindung unmöglich genannt werden müsste.

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halbstarrer Rogallo-Flügel mit Geminikapsel im Erprobungsprogramm (1961-66), Foto: NASA-Archiv

Beide modernen Fluggerätetypen, der Gleitschirm und der Hängegleiter gehen auf Entwicklungen Rogallos (geb. 1912) zurück. Er hatte die einfachen Tragflächen bereits nach dem Kriege entwickelt und 1951 patentiert. Einziger Nutzer war eine Spielzeugfabrik, die nach dem Patent flexible Kinderdrachen produzierte. 1960 wurde Wernher v. Braun auf Rogallos Arbeiten im Langley-Research Center in Hampton, Virginia aufmerksam und machte ihn zum Leiter eines Forschungsprogramms. Im Auftrage der Raumfahrt wurden sich in der Luft entfaltende Drachen entwickelt, die mit tonnenschweren Lasten erprobt wurden. Das Militär interessierte sich für den "Rogallo-Flügel" als Lastensegler und motorisierter Hängegleiter. Das Gemini-Programm setzte dann auf "Flexwings", Rogallos eigentlicher Idee der voll flexiblen Tragfläche. Verwendung fanden dann aber weiter traditionelle Rundkappen-Fallschirme.

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Hängegleiter und Gleitsegel, die beiden Entwicklungsrichtungen, die aus dem Prinzip der vollständig flexiblen Tragfläche entstanden.

Im Verlaufe des Appollo-Programms wurden mit Entwicklung des Space-Shuttles alle Arbeiten an flexiblen Tragflächen eingestellt. Rogallo ging Anfang der 70-er Jahre enttäuscht in den Ruhestand. Aber es sollte nur wenige Jahre dauern, bis die Idee ihren sportlichen Siegeszug um die Welt antrat. Kalifornische Studenten und Wasserski-Sportler in Australien, die die nun nicht mehr geheimen Veröffentlichungen über flexible Tragflächen studiert hatten, nutzten die Idee, um sich hinter Motorbooten durch die Luft ziehen zu lassen, als bemannte Schleppdrachen. Über dem Wasser konnte man auch halbwegs gefahrlos versuchen, das Seil zu kappen und den Drachen im freien Flug zu erproben. Der entscheidende Schritt, um aus der flexibelen Tragfläche ein einfach zu steuerndes Fluggerät zu machen, geht auf den Australier John Dickenson zurück. Der manntragende Hängegleiter war geboren. Zunächst zaghaft, dann rasant entwickelte sich das neue Fluggerät: Auf Volksfesten als Sensation vorgestellt führten spektakuläre Flüge zum Interesse der Medien und zur schnellen Verbreitung. In Europa war es der Zugspitzflug des Amerikaners Mike Harker am 11. April 1973, der Medieninteresse und die Drachenentwicklung auslöste. Aus der quadratischen Segelfläche an Bambusstangen sind heute ausgereifte Fluggeräte der 4. Generation geworden. Und wieder sind Flugzeuge im herkömmlichen Sinn daraus entstanden: Wieder hat man dem Hängegleiter Steuerorgane hinzugefügt, ihm einem Motor gegeben und über Zwischenstufen entstand das Ultraleichtflugzeug, das heute den Bereich des Motorsportflugs dominiert. Ein zweites Mal war das Flugzeug entstanden, und ein zweites Mal auf den Spuren von Lilienthals Hängegleiter.

Wann könnte der erste Mensch geflogen sein?

Will man die Frage beantworten, zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte der ernsthafte Flug eines Menschen möglich gewesen ist, sind die beiden oben dargestellten Entwicklungen grundlegend.

Lilienthals Durchbruch beruht auf seiner Methode, der vorsichtigen, schrittweisen Nachahmung des Gleitfluges der Vögel als erstem Ziel auf dem Wege zum Menschenflug. Dieses sichere, erlernbare Programm war seinen Vorgängern, aber auch den "beflügelten Dampfmaschinen" seiner Zeit, den fertigen Motorflugzeugenentwürfen ohne praktische Erprobungsmöglichkeit, weit überlegen. Werden Lilienthals Flüge gewöhnlich als Beginn des Menschenfluges nach dem Vorbild Vogel apostrophiert, besteht sein Erfolg aber gerade in der teilweisen Überwindung dieses Vorbildes. Lilienthal gelang es, sich von den hervorstechenden Eigenschaften des Vogelflügels, dem Flügelschlag und dem Federkleid zu lösen und im Laborversuch die verborgenen, aber entscheidenden Eigenschaften des Flügels zu ermitteln. Dieser Weg war aber erst auf der Grundlage der Physik des 18. Jahrhunderts mit entsprechender wissenschaftlicher Methodik möglich und stellt sich trotzdem als außergewöhnliche Leistung der Gesamtpersönlichkeit Lilienthals dar. Ein früherer, nicht überlieferter Erfolg auf diesem schwierigen Weg muss als kaum denkbar bezeichnet werden.

Anders verhält es sich mit dem Prinzip des Hängegleiters. Der technisch verwandte Fesseldrachen wurde bereits vor Jahrtausenden verwendet. Die Verwandtschaft zum Fesseldrachen hat aber einen weiteren Aspekt. Die Möglichkeit zum Erforschen seiner Flugeigenschaften und Erlernen seiner Steuerung ist nicht nur im Selbstversuch möglich. Der Flug lässt sich gefesselt simulieren. Diese Technik wurde auch von den Lilienthals und Wrights angewendet (Ihre Fluggeräte wurden zwar auch Drachenflieger genannt, waren technisch aber eben doch deutlich anders aufgebaut.). Die Wrights erschlossen mit diesem Ziel die "Outer Banks" vor der Küste von North Carolina, die ihnen als Gebiet mit gleichmäßigem starken Küstenwind genannt wurden. An der Steilküste von Hawaii starten heute Drachenflieger, in dem sie sich im Hangwind halten lassen und dann durch bloßes Loslassen (vergleichbar dem Kappen der Fesselschnur) fast senkrecht nach oben getragen werden.

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Grundform des Hängegleiters vom Rogallo-Typ

Ein dritter Aspekt ist die Verwandtschaft von Gleitschirm und Fallschirm. Das Problem der Flugstabilität, das auch Lilienthal letztlich das Leben kostete, und das den heutigen Grundaufbau des Flugzeuges im Detail bestimmt (V-Form der Flügel, Trimmung, Leitwerke etc.) tritt bei einem Hängegleiter, dessen Gewicht sehr tief liegt (oder an einer langen Schnur hängt) nicht auf. Ein Drachen, dessen Gewicht (der Pilot) tief unter dem Flügel hängt, wie beim Fallschirm oder Gleitschirm der Fall, ist in der Luft so stabil wie etwa die Samen der Pusteblume.

Könnte es also doch eine vergessene Frühgeschichte des freien Menschenflugs gegeben haben? Gibt es doch eine vergessene Wahrheit hinter Ikarus, Wieland dem Schmied und der Alexandersage? Wir wissen es nicht. Aber es gibt gute Gründe für folgende Hypothese: Wenn es tatsächlich eine vergessene Vorgeschichte des Menschenflugs gibt, so gehen die prähistorischen Menschenflüge sicher auf das Prinzip des Hängegleiters, also "entfesselter" Drachen zurück, und nicht auf eine frühe Vorwegnahme der Flugzeugentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts.