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Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns Nr. 13:
Zur Geschichte des Fliegens und des Flugzeugbaus in Mecklenburg-Vorpommern Friedrich-Ebert-Stiftung, Schwerin, 2007 ISBN 978-3-89892-619-5

 
Otto Lilienthal:
Abenteurer – Nationalheld – Markenzeichen

über die wechselnde Wahrnehmung einer Pionierleistung

Bernd Lukasch

Vielleicht der erste "Liebling der Medien" sei er gewesen, so meint der britische Luftfahrthistoriker Charles Harvard Gibbs-Smith über Otto Lilienthal, den preußischen (oder auch pommerschen) Ikarus. Tatsächlich wurden die Flüge Lilienthals ab 1893, im dritten Jahr seiner "Fliegerlaufbahn" fast ohne Zeitverzug publiziert und populär wie wohl keine andere wissenschaftliche Pionierleistung. Zeitgenössische Veröffentlichungen aus vielen Ländern sind uns bekannt, darunter aus Frankreich, Russland und den USA. Wissenschaftliche und populäre Zeitschriften schreiben über Lilienthal, drucken seine Artikel, teilweise bebildert, zum Teil mit Originalfotos als separat eingebundene Tafeln. Karikaturisten spekulieren über den künftigen Berufsverkehr – mit Lilienthalflügeln.

Verschiedene Gründe sind es, die zu dieser ungewöhnlichen öffentlichen Aufmerksamkeit für eine wissenschaftliche Leistung führten. Einerseits fielen Lilienthals Flüge in eine Zeit, in der sich die aktuellen Druckerzeugnisse zu Zeitungen und Zeitschriften im heutigen Sinne entwickelten. Bereits seit 1853 gab es die Gartenlaube – Illustrirtes Familienblatt in einer Auflage von mehreren Einhunderttausend. Sie verstand sich aber als politisch–pädagogische Familienlektüre, und war weniger der aktuellen Berichterstattung verpflichtet. Der Stein der Weisen, Vom Fels zum Meer, All-Deutschland und Über Land und Meer waren andere Titel. Die Funktion zeitnaher und anschaulicher Berichterstattung erfüllte die Berliner Illustrirte Zeitung. Sie war 1892 gegründet worden und wurde als Wochenzeitschrift zum ersten echten deutschen Massenblatt. Diese Vorgänger heutiger Magazine, unterschieden sich in ihrer Aufmachung und in ihren Themen von den Nachrichten- und Anzeigenblättern früherer Zeit. Für einen möglichst großen Leserkreis gedacht war man auf der Suche nach Themen die sowohl für breite Bevölkerungsschichten verständlich, als auch von Neuigkeits-, Sensations- oder Bildungswert und damit breitem Interesse waren.

Foto Zeitschrift

Titelblatt von "La Tribuna" vom 14. Oktober 1894

Ab 1889 erschien der Prometheus – Illustrirte Wochenschrift über die Fortschritte der angewandten Naturwissenschaften in großer Auflage, "durchdrungen von dem Gedanken, dass alle Gebildeten ein Interesse daran haben, regelmässig Kenntniss zu nehmen von den Fortschritten der Naturwissenschaften und ihrer Anwendungen", wie es im Vorwort heißt. Neben der Zeitschrift für Luftschifffahrt und Physik der Atmosphäre, dem ab 1881 erscheinenden ersten speziellen Periodikum für Luftschifffahrt, das als reine Vereins- und damit Fachzeitschrift heute außerordentlich rar ist, publizierte Lilienthal regelmäßig im weit verbreiteten Prometheus. Von großem Einfluss auf den Siegeszug der neuen Druckerzeugnisse war zweifellos die Abbildung, der sich der neue Zeitschriftenmarkt bediente. Die um 1880 entwickelte Autotypie machte auch das Drucken von Fotografien möglich, die in den Wochenzeitschriften schon im Text eingebunden erschienen, noch bevor sich im 20. Jahrhundert der Bildjournalismus die Tageszeitung erschloss. Die "Illustrierte" ist uns als Begriff für ein Genre bis heute erhalten geblieben.
Die Vorlage für die meisten verwendeten Abbildungen Lilienthals waren Fotografien von seinen Flügen. Tatsächlich war die Fotografie für Lilienthal und für seine internationale Popularität und zweifelsfreie Anerkennung von größter Bedeutung. War es mit der Entwicklung der Fotografie seit Mitte des 19. Jahrhunderts für den gut situierten Bürger üblich geworden, sich mehrmals im Leben fotografieren zu lassen, entstand in den 1880er Jahren eine neue für Lilienthal so bedeutende fotografische Technik: Mit der Dokumentation des Kaisermanövers 1882 und mit Serien sich bewegender Tiere, darunter fliegender Störche, hatte der aus Posen stammende Berliner Fotograf Ottomar Anschütz 1884 die so genannte Augenblicks- oder Momentfotografie populär gemacht und war damit zu einem der Fotografiepioniere geworden.

Wesentliche Erfindung auf diesem Weg war sein Schlitzverschluss, der kurze Belichtungszeiten ermöglichte. Es war der Schritt vom Portraitfoto, dem gemalten Portrait nachempfunden, zur Fotografie als Beweismittel, als eingefrorenem unverfälschten Augenblick, im Gegensatz zum inszenierten Studiofoto. Der Schmuckkarton, auf dem Anschütz seine Fotografien montierte, trägt folgerichtig den Aufdruck "nach dem Leben aufgenommen von Ottomar Anschütz". In Lilienthals fotografischem Nachlass befanden sich mehrere der berühmten Storchenbilder von Anschütz. Vermutlich waren sie es, die Lilienthal mit ihm in Kontakt brachten. Das Studium des Vogelflugs war Lilienthals wichtigste Quelle auf dem Weg zu den eigenen Flügen.

1893 und 94 fotografiert Anschütz Lilienthals Flüge. Lilienthal erkennt und nutzt den dokumentarischen Wert der neuen Technik offensichtlich ganz zielgerichtet. Bereits wenige Tage nach seinen ersten erfolgreichen Flügen, die 1891 in der Nähe von Potsdam stattfanden, lässt er sich von Professor Karl Kassner vom kaiserlichen Meteorologischen Institut begleiten. Dieser war wie Lilienthal Mitglied im Berliner Verein für Luftschifffahrt und hatte dort über Wolkenfotografie vorgetragen. Kassner wurde damit im Herbst 1891 zum ersten Fotografen, der einen frei in der Luft schwebenden Menschen fotografierte. Lilienthal beabsichtigte offensichtlich, die Fotografien zur Illustration seines nächsten Vortrags im Verein zu verwenden. Im Protokoll der Sitzung vom 16. November 1891 heißt es dann auch: "Einige Moment-Photografien, welche den Experimentator mit seinem Apparat in der Luft schwebend darstellen, veranschaulichen die Versuche".

Originalfotografie

"Flugbetrieb" - Schnappschuss oder frühe Inszenierung? Originalaufnahme von 1893

Heute sind uns 137 Fotos bekannt, die während der Flugversuche Lilienthals in den Jahren 1891 bis 1896 aufgenommen wurden . Die detaillierte Bestimmung der Bilder zeigt, dass Lilienthal die fotografische Technik sehr zielgerichtet zur Dokumentation seiner Flugtechnik einsetzte. Die Bilder sind jährlich an nur wenigen Tagen aufgenommen. Sie wurden nach deren Errichtung ausschließlich auf seinen Berliner Fluggeländen aufgenommen, wo er zum Fototermin bei entsprechendem Wetter mehrere Apparate in verschiedenen Flugphasen dokumentieren lassen konnte, obwohl ihm dort, bedingt durch die geringe Abflughöhe, nur relativ kurze Flüge möglich waren.
Dessen ungeachtet ist offensichtlich, dass Lilienthal die fotografische Inszenierung seiner Flüge genoss. Mit Fliegerkostüm, Publikum und Komparsen schuf er - alles andere als kamerascheu - die Voraussetzung für jene Fotodokumente, die bis heute sensationell sind, als Dokumente der Fotografie- wie der Fluggeschichte.

Neben den technischen Voraussetzungen für die Popularisierung der Flüge war aber vermutlich ein zweiter Aspekt viel bedeutender für deren Popularität: Der Menschenflug als anspruchsvolle physikalisch-technische Innovation unterscheidet sich von allen vergleichbaren Erfindungen dadurch, dass er als Idee zu allen Zeiten populär und aktuell war, als Legende, als Märchen, als Phantasie oder Menschheitstraum. Wohl keine andere Technik besitzt, wie der Menschenflug, eine Kulturgeschichte, von der Engel, Hexen, Himmelswagen ebenso künden wie die Geschichten von Ikarus, Wieland dem Schmied und anderen. "Der Mensch kann fliegen" war eine Nachricht für jedermann, keine nur für die wissenschaftliche Welt.

Karikatur

Luftverkehr mit Lilienthalflügeln, Karikatur aus Fliegende Blätter.

Aus heutiger Sicht wiegen Lilienthals Laborexperimente, die den praktischen Flügen vorausgingen, wesentlich schwerer für die Entwicklung zum Flugzeug von heute, als seine Flüge. Seine Flugtechnik war bereits durch die Entwicklungen der Gebrüder Wright ab 1900 abgelöst und weiterentwickelt worden und wurde erst in jüngster Zeit wiederentdeckt. Aber auch für die technische Entwicklung zum Flugzeug, die in den zwei Jahrzehnten nach Lilienthals Tod bis zum massenweisen Kriegseinsatz führte, war der entscheidende Antrieb nicht das nun vorhandene und von Lilienthal geschaffene theoretische Rüstzeug, sondern seine Leistung, das Thema aus der akademischen Diskussion in die Wirklichkeit (und in die Zeitungen) gebracht zu haben. Es waren jedoch nur wenige, die an Lilienthals Ergebnisse anknüpften: die späteren Flugpioniere der europäischen und anderen Länder, wie der USA. In Deutschland war der Ikarus vom Himmel gefallen, der Traum vom Menschflug ausgeträumt, und der Fliegeberg in Lichterfelde, jener künstliche Hügel, an dem fast alle Fotografien entstanden und der am Wochenende zum Ausflugsziel der Berliner geworden war, verwilderte.

Erst anderthalb Jahrzehnte später wurden neue Flieger euphorisch gefeiert und ihre wachsenden Flugleistungen mit großem Interesse verfolgt, in den fünf Jahren zwischen den ersten Vorführungen der Gebrüder Wright in Deutschland und den Luftkämpfen des Ersten Weltkriegs. Wahrgenommen wurden die Flüge aber weniger als eine rasante technische Entwicklung denn als Wettkampf der Nationen um sportliche Höchstleistungen. Zum großen Publikumsinteresse an den Flugschauen und –wettkämpfen trug neben den waghalsigen Vorführungen und spektakulären Flugmanövern der "tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten" ein gutes Stück auch Sensationslust bei, denn die Chance war groß, Augenzeuge eines der häufigen schweren Unfälle und Abstürze zu werden.

Der Name Lilienthal spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr. Zunächst waren es die Franzosen, die der überragenden Wright-Maschine Konkurrenz machten. Lilienthal hatte seine Platz in der Vorgeschichte, neben Ikarus, dem Schneider von Ulm oder Leonardo da Vinci. Außerdem sah Deutschland seine nationale Vorherrschaft auf dem Gebiet des Luftschiffs und hatte im Grafen Zeppelin einen nationalen Helden gefunden. "Seine Majestät der Kaiser veranlasste die Gründung einer Motorluftschiff-Studiengesellschaft, welche berufen ist, durch praktische Arbeiten auch weiter den deutschen Luftschiffen den Vorrang zu bewahren.", heißt es im Handbuch des Kaisers von 1913 unter der Überschrift "Im Reich der Luft – Geschichtliches und Neues von der Luftschiffahrt". Aber auch auf dem Gebiet des Flugzeugs sollte sich Deutschland nicht geschlagen geben: "Um aber auch auf dem Gebiete der Flugzeuge vorwärts zu kommen und Vorbildliches zu schaffen, [...] hat sich eine sehr große Zahl von patriotischen Männern zusammengefunden, welche durch eine Nationalflugspende dies Ziel zu erreichen hofft. [...] Mögen die Sammlungen von Erfolg begleitet sein und Deutschland dadurch in die Lage kommen, auch auf diesem Gebiete keiner anderen Nation nachstehen zu müssen."

Auf den ersten Blick war die Atmosphäre der Flugwettkämpfe fast noch vereinbar mit Lilienthals Visionen vom Fliegen als Zweig des Turnens, vom sportlichen Wettkampf im Dienste der technischen Weiterentwicklung und vom Flugzeug als grenzüberschreitendem und Frieden stiftendem Mittel zur Völkerverständigung. Die öffentlichen Leistungsschauen und Wettbewerbe verfolgten aber von Anfang an ein anderes Ziel als sportlichen Wettkampf und Schau, und dieses Ziel kam in Lilienthals Zukunftsvision nicht vor: Um einen zahlungskräftigen Interessenten für das Flugzeug zu finden, musste man seine Verwendbarkeit und Zuverlässigkeit für dessen Zwecke unter Beweis stellen. Und dieser Interessent war das Militär. Auch die ersten Schauflüge der Gebrüder Wright in Europa fanden erst statt, als die Versuche zu direkten Verhandlungen mit den Regierungen in Amerika, in Deutschland und in Frankreich gescheitert waren und potenzielle Konkurrenten im Wettstreit um ein marktfähiges Flugzeug die Öffentlichkeit suchten.

Eine Verbindung zu den Flügen Lilienthals wurde in dieser Zeit – fast zu Recht, möchte man sagen – nicht hergestellt. Dieser Zusammenhang blieb auf die akademische Wahrnehmung beschränkt, wenn die Gebrüder Wright Lilienthal als wichtigsten ihrer Vorläufer bezeichneten oder sein Buch 1905 ins Russische und 1911 ins Englische übersetzt wurde. Auf einer einzigen der zahllosen Medaillen der Flugtage und Streckenflüge findet sich Lilienthal als Motiv, auf der Medaille des "Ostmarkenfluges von 1914".

Die immer wendigeren und zuverlässigeren Flugzeuge, die zudem in der Lage waren, einen Passagier zu befördern, der nicht mit der Steuerung des Flugzeugs beschäftigt war, konnte die Militärs überzeugen. Nur wenige Monate nach den Flugschauen wurden Piloten zu Hunderten mit einer Lebenserwartung von wenigen Wochen in den Krieg geschickt. In den Luftkämpfen der neuen Helden konnte Deutschland tatsächlich die Überlegenheit gewinnen, der Krieg aber ging dennoch verloren und im Versailler Vertrag wurde der Flugzeugbau in Deutschland mit strengen Auflagen belegt. Die neuen Helden hatten ausgedient.

Es waren nicht zuletzt die Bestimmungen des Friedensvertrages, die in den 1920er Jahren zu einer Renaissance des Lilienthal'schen Fliegens, des sportlichen Wettstreites am Hang mit motorlosen Fluggeräten führten. Erste Versuche knüpften sogar direkt an Lilienthals Hängegleiter an. Die Wasserkuppe in der Rhön wurde zum Geburtsort des Segelfluges und es gibt den schönen Satz, dass der Segelflug das Beste sei, was die Deutschen je aus einem verlorenen Krieg gemacht hätten. Die neuen Sportler sahen sich zu Recht als Erben Lilienthals. Die Fliegeridole des Weltkriegs waren verbraucht. Nicht nur in Bezug auf die Technik des Fliegens, war Lilienthal geeignet, an deren Stelle zu treten.

Am Beginn der 1930er Jahre war die Zeit auch für ein neues deutsches Selbstvertrauen gekommen. Jetzt war der Name Lilienthal geeigneter als irgend ein anderer, repräsentativ für einen Neuanfang, für ein Zurück zu den Wurzeln, zu den Grundlagen deutschen Erfindergeists. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte nur der Wirt der "Gaststätte am Karpfenteich", am Fuße des Fliegeberges die Geschichte des Ortes wachgehalten und hatte in seinem Gasthaus eine private Luftfahrt-Ausstellung unterhalten. Schon Mitte der 1920er Jahre stand die Gaststätte aber "an Deutschlands künftigem Fliegerehrenhain: Auf dem Lilienthalberg wird ein neuer Tempel sich erheben. [...] Dem Andenken unserer deutschen Fliegerhelden von Richthofen und Bölcke sollen zwei Ehrenbänke am Aufgang geweiht sein. Hinter dem Berg ein großes Luftfahrtmuseum, das alles Interessante aus dem Flugwesen der ganzen Welt sammeln und zur Anschauung bringen wird." Das Museum entstand dann aber im Zentrum Berlins: Die riesige "Deutsche Luftfahrtsammlung" auf dem Ausstellungsgelände der Gewerbeausstellung von 1879 bestand nur wenige Jahre, ehe sie im Bombenhagel des zweiten Weltkriegs unterging . Nur wenig mehr als ein bronzener Löwe vom Eingangsportal ist erhalten geblieben . Der Fliegeberg aber wurde am 10. August 1932, dem 36. Todestag Lilienthals, als "Otto-Lilienthal-Gedenkstätte" eingeweiht. Es war ein großes Ereignis mit erlesenen Gästen, das im Rundfunk, dem neuen Massenmedium, übertragen wurde. Flieger umkreisten den Hügel. "Alle Welt blickt auf Steglitz" war in der Zeitung zu lesen. Auf einer silbernen Weltkugel an der Spitze des Fliegeberges waren die großen Flugrekorde seit Lilienthals ersten Anfängen verzeichnet. In Grußadressen würdigten Vertreter von Wissenschaft, Flugsport, Militär und Politik den ersten Flieger.
Wirklich beeindruckend in den vielen Presseberichten und erhaltenen Ansprachen ist ein kleiner Kranz, fast am Rande der Veranstaltung. Abgelegt haben ihn mit wenigen Worten drei Männer, die bei den gefeierten Ereignissen wirklich beteiligt waren. Und dieser Kranz ehrte im Gegensatz zu all den anderen ausdrücklich nicht den Flieger. "Dem Andenken an den Menschen Otto Lilienthal – gewidmet von seinen flugtechnischen Mitarbeitern", stand auf dem Schleifenband des Kranzes. Angesichts der Entwicklung der kommenden Jahre klingt die Widmung fast wie eine Mahnung.

Postkarte

Die Lilienthal-Gedenkstätte in Berlin-Lichterfelde

Das Begräbnis von Otto Lilienthals Bruder Gustav nur ein halbes Jahr später wurde bereits zur Glorifizierung der deutschen Luftwaffe benutzt. Man hatte den Namen Lilienthal auf die Nazipropagandaliste gesetzt. Ein von Hermann Göring gespendeter Kranz segelte von einem über Lichterfelde kreisenden Flugzeug herab. 1939, kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs, erschien das Heft "FLUGZEUG MACHT GESCHICHTE", als Sondernummer des Illustrierten Beobachters. Der Reichsminister für Luftfahrt schrieb das Vorwort: "Das deutsche Volk muss ein Volk von Fliegern werden", heißt es da. Und diesem Ziel dient Lilienthal als Ikone: "Ein Deutscher hat's vollbracht.", so das Credo. "Otto ist besessen vom Fluggedanken, die Voraussetzung für seine Tat. Dazu gesellt sich der Mut des Mannes. Gefahr!? – Tod!? – Was bedeuten sie ihm! So selbstverständlich sind seine letzten Worte vor seinem Tode am 9. August 1896: 'Opfer müssen gebracht werden'". Seitdem ist dieser Satz in der Welt. In Bronze gegossen ist er auch heute noch auf Lilienthals Grab zu lesen. 1940 ist die Ruhestätte umgestaltet und an den Hauptweg des Friedhofes verlegt worden. Vorübergehend gab es auch den Plan, Lilienthal auf einen neu zu schaffenden Heldenfriedhof umzubetten.

Die Vereinigung für Luftfahrtforschung und die Wissenschaftliche Gesellschaft für Luftfahrt wurden auf Anordnung Görings 1936 zur "Lilienthal-Gesellschaft für Luftfahrtforschung" vereinigt. Lilienthal war der Platz in der Geschichte des Flugzeugs zugewiesen worden, der ihm gerecht wird. Dieser Platz aber sollte einem Ziel dienen, das Lilienthals Ideen auf brutalste Weise widersprach. "Dem Menschen Otto Lilienthal" hatten Paul Beylich, Hugo Eulitz und Paul Schauer ihren Kranz gewidmet. Und dieser Mensch hatte eine ganz andere Vision mit seinem Flugzeug verbunden: Ich "habe mir die Beschaffung eines Kulturelements zur Lebensaufgabe gemacht, das Länder verbindend und Völker versöhnend wirken soll. [...] Die gegenseitige Absperrung der Länder, der Zollzwang und die Verkehrserschwerung ist nur dadurch möglich, dass wir nicht frei wie der Vogel auch das Luftreich beherrschen. [...] Die Grenzen der Länder würden ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Unterschiede der Sprachen würden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen sich verwischen. Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden schaffen." So lautete Lilienthals Vision.

Heute umspannt der Luftverkehr tatsächlich die Welt. Die Vision vom ewigen Frieden jedoch war nicht erst durch das "Volk von Fliegern" begraben worden.
"Wer besitzt die Rechte am Namen Otto Lilienthals?", so lautete die etwas überraschende Anfrage eines ausländischen Automobilherstellers im Otto-Lilienthal-Museum. "Der Erste" ist der Superlativ, der den Namen Lilienthal heute zur Marke mit Werbepotential macht. Eine ganzseitige Anzeige in einem Manager-Magazin zeigt ein koloriertes Flugbild Lilienthals. Darunter heißt es: "Etwa zur gleichen Zeit wollte der junge Hugo Asbach in Rüdesheim am Rhein auch ein hohes Ziel erreichen, allerdings auf einem ganz anderen Gebiet: Er wollte der erste Weinbrenner sein, dem es gelang, einen vollendet guten Tropfen [...] zu schaffen. [...] Asbach Uralt – wenn einem Gutes widerfährt...". Der Techniker Lilienthal scheint auch als Werbeträger für Weinbrand geeignet zu sein.

Im Jahre 2006 startet Deutschland eine Image-Kampagne zur Fußballweltmeisterschaft. In großformatigen Anzeigen wird mit den "Markenzeichen" des Landes für den Standort Deutschland geworben. Eine ganzseitige Annonce in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meint: "Du bist Otto Lilienthal. – Du legst eine Bruchlandung nach der anderen hin? Doch du hast sicher nicht so viele Bruchlandungen hingelegt wie Otto Lilienthal. Bevor er zum ersten fliegenden Menschen wurde, stürzte er Dutzende Male ab. Stutze deinen Träumen nicht die Flügel. Vielleicht dauert es bei dir etwas länger, doch es ist niemals zu spät, der Erste zu werden. Du bist Deutschland".
Tatsächlich folgt auch unser Verständnis und unsere Beschreibung von Technikgeschichte weitgehend diesem Bild, der Suche nach dem "Ersten".

Geschichte wird geschrieben als Abfolge von Rekorden, eine Auflistung von Durchbrüchen und Meilensteinen, dokumentiert in Metern, Sekunden und Tonnen. Das erfordert exakte Definitionen. Die Gebrüder Wright realisierten demnach den ersten motorisierten, gesteuerten und eigenstartfähigen Flugapparat, der mehr als 200 Meter weit flog. 4 Attribute, die den Rekord eindeutig machen, auch wenn an der Eigenstartfähigkeit der Wind auf den Outer Banks an der Küste von North Carolina wesentlich beteiligt war.
Heldentaten aber erfordern Helden-Biografien. "Ich diente nur der Technik" war eine bemerkenswerte Ausstellung im Museum für Verkehr und Technik Berlin (heute Deutsches Technikmuseum) überschrieben. Der provozierende Titel wollte auf eine differenziertere Beschreibung von Technikgeschichte hinweisen. Die Ausstellung zeigte an acht Beispielen technische Spitzenleistungen im Spiegel der Biographien ihrer Urheber, die ausnahmslos über das Jahr 1945 hinweggingen und in deren Vita dieses Datum als Bruch kaum Niederschlag findet. Sie dienten nur der Technik.

Ist der gängige Blick auf Technikgeschichte angesichts der Ambivalenz, die unsere Technikwahrnehmung heute zunehmend bestimmt, noch zeitgemäß? Lilienthal empfand Technik als das neue und potente Werkzeug zur endgültigen Lösung gesellschaftlicher und sozialer Probleme. Ist dieser Teil seiner Biografie vielleicht interessanter und bedeutungsvoller als der Superlativ "Erster Flieger", obwohl er einen Irrtum oder eine gescheiterte Vision beschreibt? Ist Erfolg vielleicht nur solange das Kriterium für den Einzug in die Chronologien der Technikgeschichte, wie Technik als Synonym für Fortschritt, als ge- oder missbrauchbares, aber wertfreies Instrumentarium der Gesellschaft beschrieben wird?

1992 schrieb Rudolf Bahro, der Gesellschaftskritiker in beiden deutschen Staaten: "Wie unser Kulturentwurf gegenwärtig angelegt ist, nämlich von Grund auf und bis in nahezu alle institutionellen Konsequenzen "nimmersatt" (F. Schorlemmer), stört er unweigerlich das irdische Gleichgewicht und verhindert die weitere Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte." Bahro zog den Schluss, dass staatliche Investitionen in Alternativprojekte sozialer Strukturpolitik wesentlich bedeutsamer wären als Milliarden, investiert in wissenschaftlich-technische Innovationen.

Es ist ein Anliegen des Otto-Lilienthal-Museums, die Biografie Lilienthals nicht als Hintergrund zur Erfindung "Flugzeug" zu erzählen, sondern das Flugzeug zu verstehen als fassettenreiches Ergebnis einer Persönlichkeit, die "an allen ernsten Kultur-Bestrebungen" ihrer Zeit teilnahm, wie es in einem Nachruf auf Lilienthal heißt. Zum Lebenswerk dieser Persönlichkeit gehören gescheiterte Projekte ebenso, wie nachhaltige soziale und kulturelle Ideen und technische Erfindungen auf zahlreichen Gebieten. Die sensationelle Beteiligung der Arbeiter am Gewinn der Maschinenfabrik "Otto Lilienthal" ist für die Technikgeschichte des Flugzeugs ohne Bedeutung, aber von entscheidender für den Geist aus dem das Flugzeug entstand und von dem es sich in seiner weiteren Entwicklung löste. Diese Einbettung der Technikgeschichte in ein Umfeld sollte von größerer Bedeutung sein, als die genauere Bestimmung der geschätzten 250 Meter, die Lilienthals Rekordflugweite war.